Agglomeration

Samstag 16. März 2002, Agglomeration


Wie viel Demokratie braucht der Mensch?
Die Mehrheit des Verfassungsrats lehnt kommunale Volksmotionen und ein konstruktives Referendum ab
Freiburg soll in seiner neuen Verfassung weder die Möglichkeit von Volksmotionen auf Gemeindeebene noch von konstruktiven Referenden bekommen. Die Ratsrechte hat sich in allen gestrigen Anträgen gegen die Linke durchgesetzt.
Von CHRISTIAN SCHMUTZ
Am letzten Tag der Märzsession im Verfassungsrat wurden vor allem Thesen der Kommission 4 «Politische Rechte und Verfassungsrevision» behandelt. Präsident Frédéric Sudan (FDP, Bulle) führte aus, dass man sich um annehmbare Kompromisse und nicht um Revolutionen bemüht hatte.
Volksmotion mit 300 Unterschriften
Unbestritten war die Tatsache, dass die Freiburgerinnen und Freiburger die Möglichkeit einer Volksmotion bekommen sollen. Die SP war der Meinung, dass dazu nur 100 Unterschriften notwendig sein sollten, um die Mitsprache des Volks zu gewährleisten. Die Kommission schlug 300 Unterschriften vor, die FDP 500 und die SVP gar 1000.
«Die Unterschriftenzahl kann nicht hoch genug sein, damit nicht an jedem zweiten Regentag ein politisches Leichtgewicht auf dem Tisch des Grossen Rats landet», sagte Ueli Johner (SVP, Kerzers). Erika Schnyder (SP, Villars-sur-Glâne) und Sophie Bugnon (Bürgerbewegung, Riaz) hingegen wussten von anderen Kantonen zu berichten, die eine Volksmotion mit 100 Unterschriften haben. In Solothurn beispielsweise gebe es nur vier bis fünf Motionen pro Jahr. Die Abstimmung endete schliesslich klar für den Kompromissantrag der Kommission.
6000 Unterschriften für Referendum
Die Frage nach Referenden liess erneut die Ratslinken und -rechten die Klingen kreuzen. Eine Kommissionsminderheit wollte das Recht auf Demokratie und Mitsprache fördern, indem bereits mit 4500 Unterschriften statt den bisherigen 6000 ein Referendum zustande kommen sollte. Placide Meyer (CVP, Bulle) hielt entgegen, dass heute mit Unterschriftensammlungen ein richtiges Geschäft gemacht werde und die Zahl hoch gehalten werden müsse. Mit 59 zu 52 Stimmen bei sechs Enthaltungen wurde die bisherige Lösung mit 6000 erforderlichen Unterschriften knapp beibehalten.
Ebenso wurde der Antrag einer Kommissionsminderheit verworfen, ein konstruktives Referendum in der neuen Verfassung aufzunehmen.
Auf Gemeindeebene schliesslich soll es keine Möglichkeit für eine Volksmotion geben. Auch nicht für Generalräte. Gemäss Christine Müller (SP, Freiburg) blieben alle Möglichkeiten für die Bürger dadurch unverbindlich und es entstünden Spannungen zwischen Legislative und Exekutive. Martin Ott (FDP, Heitenried) sah dies als unnötig an, denn auf Gemeindeebene nehme man einfach den Telefonhörer in die Hand und rufe an, falls ein Problem auftauche.
Nur Referendum, wenn Generalrat
Als sinnvoll erachtete die Mehrheit des Verfassungsrats auch, für die Volksrechte eine Unterscheidung zwischen Generalrats-Gemeinden und Gemeindeversammlungs-Gemeinden zu machen. Die Möglichkeit eines Referendums in Gemeinden, wo sowieso jeder an die Gemeindeversammlung gehen kann, wäre laut Kommissionssprecher Sudan eine doppelte Überwachung und somit unnötig.
Anna Petrig (SP, Freiburg) wollte im Petitionsrecht eine Antwortfrist von einem Jahr festlegen. Sie unterlag mit diesem Vorschlag mit 47 zu 60 Stimmen. Diese Thesen werden nun in die Vernehmlassung geschickt und sind noch lange nicht definitiv. Gestern demissioniert auch Benoît Chardonnens (FDP, St-Aubin) aus beruflichen Gründen. Die Nachfolge ist noch nicht geregelt.
Über ältere Leute in der Gesellschaft
Mehrmals wurde in den drei Tagen der Märzsession das Alter thematisiert. Meist hatte dabei der 86-jährige Alterspräsident, der Städter Joseph Rey (CSP); seine Finger im Spiel. Am Mittwoch verlangte Christian Pernet (Bür- gerbewegung, Lessoc), den Passus «ältere Menschen sind vollwertige Mitglieder der Gesellschaft» aus der These 2.22 zu streichen, weil er diskriminierend sei. Rey wollte lieber «es gibt keine Altersgrenze». Die Kommission schloss sich diesem Antrag an. Mit 63 zu 24 Stimmen brachte die Bürgerbewegung ihren Antrag durch.
Joseph Rey hatte schon bei seinem dritten Änderungsantrag innert fünf Minuten gewarnt: «Entschuldigen Sie mich: Als Rentner hat man vielleicht mehr Zeit nachzudenken.» Nicht so lustig fand das Denis Boivin (FDP, Freiburg). Er beschuldigte Rey gestern, in drei Tagen 12 «dumme Anträge» gemacht und so 1800 Kopien produziert zu haben.
Da hatte er aber in ein Wespennest gestochen. Von links und rechts kamen schockierte Rückmeldungen an Boivin. Er sei wohl der Einzige im Saal, der seiner Ansicht nach fähig sei, das Amt eines Verfassungsrats auszuüben, mutmasste Patrick Gruber (SP, Düdingen). Gruber schlug stattdessen vor, Reys Ergänzung «die Teilnahme an Kommissionen darf aus Altersgründen bei den Rentnern nicht eingeschränkt werden» in eine eigene These umzuwandeln.
Grubers Begründung dazu: «Die Rechte älterer Leute werden oft beschnitten nur wegen ihres Alters. Es braucht eine Schutzklausel.» Der Rat verpasste Boivin einen Denkzettel: Der Vorschlag setzte sich klar mit 76 zu 16 Stimmen bei 12 Enthaltungen durch. 
chs
Vielleicht ist bald alles anders
Die CVP will das bisherige Konzept des Verfassungsrats auf den Kopf stellen. Sie schlägt vor, gleich einen Verfassungsentwurf und nicht zuerst die Thesen in die Vernehmlassung zu schicken.

Momentan werden im Verfassungsrat die Thesen der Kommissionen im Plenum behandelt. Gemäss Stundenplan sollte im Juni ein Vernehmlassungsdossier zusammengestellt und an alle betroffenen Personen, Räte und Organisationen verschickt werden. Erst dann würde ein Verfassungsentwurf ausgearbeitet, ab März 2003 geprüft und verabschiedet. In der ersten Hälfte 2004 käme es dann zur Volksabstimmung.
Das gefällt der CVP nicht. Die ersten Erfahrungen im Plenum hätten gezeigt, dass es sehr viele und sehr unterschiedliche Thesen gebe. Einige seien bedeutend und könnten fast unverändert als Verfassungstext übernommen werden. Andere zeigten nur mögliche Interpretationen auf.
«Wegen der vielen Thesen und ihrer Bedeutung sowie des unterschiedlichen Detaillierungsgrads wird nicht erkennbar, was in der Verfassung als massgebender Text erscheinen soll. Es werden falsche Vorstellungen dessen vermittelt, was die Verfassung bringen wird. Mit einem solchen Vorgehen diskreditiert sich der Verfassungsrat gegenüber der Bevölkerung», schrieb Moritz Boschung-Vonlanthen. Eine Synthese sei sehr aufwändig und der eigentliche Gesetzestext käme nie in die Vernehmlassung. Das sei unverantwortlich.
Ab Sommer 2002 sollte man deshalb laut CVP nach der Beratung der Thesen gleich einen Vorentwurf der Verfassung erarbeiten über diesen im Plenum beraten und ihn dann ab Juni 2003 in die Vernehmlassung schicken.
Alle Fraktionspräsidenten verlangten gestern in einem gemeinsamen Ordnungsantrag Zeit bis zur Aprilsession, um die Problematik zu diskutieren. Das Büro des Rats erarbeitet nun zusammen mit den Präsidenten Lösungsvorschläge. 
chs

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