Kanton

Donnerstag 11. Januar 2001, Kanton


In die Aufwärmrunde geschickt
Klausurtagung des Verfassungsrates mit erster Diskussion über Schlüsselfragen
Eine weitere Zentralisierung der staatlichen Aufgaben stösst kaum auf Gegenliebe. Vielmehr sollen die Gemeinden in der künftigen Kantonsverfassung aufgewertet werden. Diese Tendenz zeichnet sich nach einer ersten Diskussion im Verfassungsrat ab.
Von WALTER BUCHS
Nach der Vereidigung im vergangenen Herbst hat der Verfassungsrat am Mittwoch seine erste Plenarsitzung abgehalten. Dieses als Klausurtagung konzipierte, ganztägige Treffen in Grangeneuve gab den Mitgliedern Gelegenheit, sich über die politischen Grenzen hinweg besser kennen zu lernen und anhand von Referaten einschlägige Erfahrungen aus anderen Kantonen zu sammeln (siehe separaten Text).
Es war somit eine Art Aufwärmrunde, um den Informationsstand unter den Verfassungsrätinnen und Verfassungsräten anzugleichen und die Meinungsbildung unter ihnen zu fördern. Zu diesem Zweck hatte Tagungsleiterin Marie Garnier (Offene Liste, Freiburg) bewusst für eine lockere und ungezwungene Atmosphäre gesorgt.
Stellenwert der Sozialziele
Bei der Gruppenarbeit am Nachmittag bestand Gelegenheit, sich zu drei Schlüsselthemen zu äussern, bevor die Sachbereichskommissionen, die am 31. Januar gebildet werden, ihre Arbeit aufnehmen. Der erste Fragenkomplex bezog sich dabei auf die Sozialrechte und -ziele, die bekanntlich in die neue Bundesverfassung aufgenommen wurden.
Wie aus der im Plenum von FDP-Fraktionspräsident Denis Boivin vorgelegten Synthese hervorgeht, herrscht namentlich über die Bedeutung und mögliche Konkretisierung der Sozialziele noch grosse Unklarheit. Als mögliche neue Sozialrechte wurden dabei unter anderem das Recht auf den Tod, auf Eingliederung in die Gesellschaft (Sozialisierung), auf Familie, auf eine Mutterschaftsversicherung genannt.
Welche Integration für Ausländer?
Bei der Diskussion der Frage, ob den Ausländern das Stimmrecht auf kantonaler und/oder kommunaler Ebene gewährt werden soll, wurde des Öftern auf die Wünschbarkeit erleichterter Einbürgerung hingewiesen. Wie CVP-Fraktionschef Laurent Schneuwly in seiner Zusammenfassung bekannt gab, zeichnete sich auch die Tendenz ab, dass man Stimm- und Wahlrecht nicht trennen sollte.
In einer Gruppe wurde zu diesem Thema auch darauf hingewiesen, dass die Ausweitung der politischen Rechte auf die Ausländer die politischen Parteien wieder etwas beleben könnte. Allgemein war die Haltung spürbar, auf Gemeindeebene recht offen, auf Kantonsebene aber eher zurückhaltend zu sein.
In einem dritten Themenkreis ging es um die Zahl der Bezirke und die Funktion der Oberamtmänner. Wie CSP-Fraktionspräsident Peter Jaeggi in seinem Bericht ausführte, sind zuerst die Aufgaben der Bezirke und Oberamtmänner neu zu definieren, bevor man über deren künftige Anzahl sprechen kann. Gleichzeitig habe sich auch die Meinung herauskristallisiert, die Namen der Bezirke in der künftigen Verfassung nicht zu nennen, wohl aber deren Anzahl, unter Angabe eines Minimums und eines Maximums.
Peter Jaeggi vertrat aber persönlich die Meinung, der Verfassungsrat sollte dieses heisse Eisen nicht weiterreichen, sondern selber über die künftige Territorialstruktur entscheiden. Wenn die Entscheidung auf Gesetzesstufe delegiert werde, könnte es noch sehr lange dauern, bis etwas geschieht. Zur gleichen Thematik zeichnete sich auch eine Tendenz dahingehend ab, dass die Gemeinden gestärkt werden sollten, dies namentlich im Interesse der Bürger selber.
In der Einleitung zur gestrigen Tagung ging Präsidentin Rose-Marie Ducrot auf die Rolle der Verfassungsräte innerhalb der kantonalen Behörden ein. Sie gab ihrer Hoffnung Ausdruck, diese möchten im Laufe der nun beginnenden Arbeiten die Fähigkeit entwicklen, sich zu verstehen und zu gemeinsamen Entscheiden zu kommen. In diesem Zusammenhang hatte die Solothurner alt Nationalrätin Ruth Grossenbacher darauf aufmerksam gemacht, dass Verfassungsarbeit auch viel Kompromissbereitschaft verlange.

Von anderen lernen
Bei der Ausarbeitung einer neuen Verfassung verfügen die Kantone trotz Vorgaben der Bundesverfassung über echte Freiräume, die Innovationen ermöglichen. Die Verfassungsräte haben von Gastreferenten bemerkenswerte Anhaltspunkte für die bevorstehende Arbeit erhalten.

Die für die Organisation der Klausurtagung verantwortlichen Fraktionspräsidenten haben Vertreterinnen anderer Kantone eingeladen, um aus ihren Erfahrungen bei der Ausarbeitung der Kantonsverfassung Nutzen ziehen zu können.
Im Kanton Neuenburg ist ein neues Grundgesetz im letzten Herbst in der Volksabstimmung gutgeheissen worden. Professor Pascal Mahon von der dortigen Universität hält es für sehr sinnvoll,dass zusätzlich zur Bundesverfassung auch die Kantonsverfassungen einen Grundrechtskatalog enthalten. Für die Bürgerinnen und Bürger sei dies eine wichtige Referenzbasis, was auch für die Sozialrechte und -ziele gilt.
Für Professor Mahon haben die Kantone in ihrer Verfassung namentlich auf dem Gebiet der politischen Rechte (z. B. Volksmotion oder Stimmrecht der Ausländer) sowie bei der Gebiets- und Organisationsstruktur recht viel Spielraum. Zu Form und Inhalt des Aufgabekatalogs des Staates betonte er, dass nicht für jede Aufgabe des Kantons zwingend ein Verfassungsauftrag vorgesehen werden soll.
Diese Sicht unterstützt auch der Berner Professor und alt Ständerat Ulrich Zimmerli. Eine verfassungsmässige Eingrenzung der Staatsaufgaben würde die Tätigkeit der Behörden ungebührlich blockieren. Aufgrund der Erfahrungen im Kanton Bern, dessen neue Verfassung vor einem Dutzend Jahren in Kraft getreten ist und in manchen Bereichen Modellcharakter hat, findet es Professor Zimmerli trotzdem unumgänglich, einen (nicht abschliessenden) Katalog der Staatsaufgaben in das Grundgesetz aufzunehmen.
Die Solothurner alt Nationalrätin und ehemalige Verfassungsrätin Ruth Grossenbacher wies auf die Bedeutung der Vernehmlassung des Verfassungsentwurfs und der Öffentlichkeitsarbeit hin, um das Interesse der Bevölkerung wachzuhalten. Zudem gab sie zu bedenken, dass jeder Verfassungstext ein Spiegel seiner Zeit ist. Diese Feststellung wurde vom Solothurner Staatsschreiber und ehemaligen Generalsekretär des Verfassungsrates, Konrad Schwaller, anhand von anschaulichen Beispielen untermauert.
Die frühere National- und Ständerätin Yvette Jaggi gab als Kopräsidentin des waadtländischen Verfassungsrates, der im Moment etwa in der Halbzeit seiner Arbeiten steckt, einen anschaulichen Einblick in die Problemstellung. Sie wies auf die Schwierigkeiten hin, dass viele Mitglieder des Verfassungsrates noch keine parlamentarische Erfahrung haben. Sowohl in den Kommissionen als auch in den politischen Gruppen habe es daher eine gewisse Anlaufzeit gebraucht, bis man einen speditiven Arbeitsrhythmus gefunden habe.  wb

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