Kanton

Donnerstag 9. März 2000, Kanton


Tüchtige und vielseitige Bauleute gesucht

Seit 1965 haben elf Schweizer Kantone ihre Verfassung einer Totalrevision unterzogen. Den Reigen eröffnete seinerzeit der Halbkanton Nidwalden. Seit 1993 gilt im Kanton Bern eine neue Verfassung. Seit einem Jahr ist in der Waadt ein Verfassungsrat an der Arbeit, um ein neues Grundgesetz zu erarbeiten. Im letzten Herbst bestimmten die Baselstädter ihren 60-köpfigen Verfassungsrat. Am Wochenende ist nun das Freiburger Stimmvolk aufgerufen resp. eingeladen, den 130-köpfigen Verfassungsrat zu wählen.
Eine Modeerscheinung? Mitnichten! Letzten Sommer hat das Freiburger Stimmvolk in seltener Einmütigkeit beschlossen, dem Kanton an der Schwelle zum dritten Jahrtausend ein neues Grundgesetz zu schenken, im Bewusstsein, dass die Normen der über 140 Jahre alten Staatsverfassung und die heutige Realität zum Teil weit auseinanderklaffen. Gerade eine (Kantons-)Verfassung sollte aber eine verständliche und zeitgemässe Lebensgrundlage sein, auf die sich die Bevölkerung eines Staatswesens tatsächlich abstützen kann. Sie ist viel mehr als bloss ein juristischer Text. Die Verfassung, das Grundgesetz des Kantons, ist ein wichtiges politisches, soziales, kulturelles und historisches Dokument, das tatsächlich Richtschnur ist und Orientierungsfunktion hat.
Nun geht es also am Wochenende darum, jene (Bau-)Leute zu wählen, welche das Gebäude, das den Kanton zusammenhält und wohnlich macht, neu aufbauen. Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger geben ihnen den Auftrag ein Jahrhundertwerk zu schaffen. Das ist zweifellos ein wichtiger Moment im Leben eines Staates. Die Wahl vom Wochenende ist deshalb auch ein ganz wichtiger Akt. Mit der Einsetzung des Verfassungsrates wird die Bedeutung und Wichtigkeit der Aufgabe zusätzlich unterstrichen. Dabei ist zu hoffen, dass die Bedeutung dieser Wahl auch in einer guten Stimmbeteiligung zum Ausdruck kommen wird. Dies wird dem Verfassungsrat die notwendige Legitimität geben.
Auf den 58 Listen, welche bei den Oberämtern für die Wahl in den Verfassungsrat deponiert wurden, bewerben sich 747 Personen für einen der 130 Sitze in diesem Gremium. Der Andrang ist bedeutend grösser als bei den letzten Grossratswahlen 1996, als 540 Personen ein Mandat im Kantonsparlament anstrebten. Dieses Interesse ist erfreulich, und zwar in mehrfacher Hinsicht.
Von den 58 eingereichten Listen sind rund ein Drittel nicht direkt einer etablierten Partei zuzuordnen. Dies zeigt, dass das Interesse an dieser wichtigen und zweifellos faszinierenden Arbeit breit abgestützt ist. Viele Kandidierende geben an, bis jetzt noch nie politisch aktiv gewesen zu sein. Dann haben zahlreiche politische Parteien ihre Listen auch Sympathisanten und Nicht-Mitgliedern geöffnet. Diese Möglichkeit wurde ebenfalls gut genutzt. Demgegenüber sind unter den Kandidierenden wenig aktive Politikerinnen und Politiker, was wahrscheinlich nicht nur von Vorteil sein wird.
Nur gerade ein knappes Drittel der Kandidierenden sind Frauen. Hingegen sind die verschiedenen Altersgruppen gut und ausgewogen vertreten. Im Kandidatentableau findet man sowohl ganz junge als auch betagte Menschen, und zwar in allen Wahlbezirken. Dies sind gute Voraussetzungen, um einen repräsentativen Verfassungsrat zu wählen. Jetzt haben es die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger in der Hand, wenn sie es nicht bereits schon getan haben, für jene Vertreterinnen und Vertreter die Stimme abzugeben, die an ihrer Stelle am Jahrhundertbau für den Kanton arbeiten sollen. Gerade für die junge Generation ist dies besonders wichtig. Der Neubau soll insbesondere für sie zeitgemäss konzipiert und dann wohnlich eingerichtet werden.
Dies verlangt auch entsprechende persönliche Qualitäten der künftigen Mitglieder des Verfassungsrates. Gerade in einer offenen und freiheitlichen Gesellschaft wird es eine besondere Herausforderung sein, ein Grundgesetz zu erarbeiten, mit dem die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen leben können. Auch in einem Verfassungsrat, der auf den ersten Blick vielleicht weniger (partei-)politisch geprägt sein wird als das Kantonsparlament, wird es Gruppen-Machtkämpfe geben, werden die Mitglieder zwischen Eigeninteressen und Gemeinwohl hin- und hergerissen sein. Da braucht man sich keine Illusionen zu machen.
Diesen Anforderungen müssen sich die künftigen Gewählten stellen können. Es wird gut sein, wenn sich der Verfassungsrat mit einem breiten, offenen Blick, ja visionär an die Arbeit macht und auch vor originellen Lösungen nicht zurückschreckt. Es darf dann aber nicht allzu lange dauern, bis die Phase des Realisierbaren und praktisch Möglichen erreicht wird. Und was sich alle künftig Gewählten bereits heute im Gesamtinteresse der Bevölkerung dieses Kantons vornehmen müssen: persönliche Bereitschaft, Kompromisse zu suchen, solche einzugehen und zu akzeptieren.
Walter Buchs

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